Wahrnehmung weiterleiten und in Bewegung halten –  Künstlerbücher, Zeichnungsblöcke, Kreisarbeiten

 

Eindruck, Verweis, Abstraktion.

Abstraktion bezeichnet den Vorgang der Transformierung von Eindrücken der alltäglichen Wahrnehmbarkeit der Welt in konkrete aus den bildnerischen Mitteln entwickelte Ordnungssysteme. 

Bilden Fundstücke, Farbeindrücke, Formen und Räume aus der Erinnerung an erlebte Bewegung durch Straßen und Orte die Ausgangspunkte für Susanne Bürger, so entwickelt sich die künstlerische Arbeit in mehreren Etappen. Beginnend mit gegenständlichen Zeichnungen, die das Gestaltpotential erkunden und damit die Ausgangsform berühren, entstehen in schneller Geschwindigkeit Zeichnungen, die zu eigenständigen Formen führen und die Ausgangspunkte als Echo in sich tragen. Dabei vertraut Susanne Bürger ganz auf eine Vorgehensweise der direkten Setzungen in rascher Abfolge hintereinander, die keine nachtägliche Überarbeitung möglich macht. One shot Situation oder Neuanfang. Die Phantasie, das Unbewusste und die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen unterstützen diesen Prozess, dessen Entstehen als lebendige Spur der Hände in das Papier eingeschrieben ist.

In der Vitalität der Farbe und Intensität der Linie übertragen sich gestalterische Lust und spielerische Freude unmittelbar auf den Betrachter und öffnen so seine Wahrnehmungsfähigkeit. Sind die Formen mit zum Teil deutlich erkennbaren, zum Teil sehr übertragenen Bezug zu den Ausgangsformen in einem Zeichensystem angelegt, verweisen sie die Vorstellungskraft in andere Bahnen, wie von einem weit entfernten Punkt aus gesehen.

Erlebte Bewegung, Sehbewegung, vorgestellte Bewegung.  

 

Künstlerbücher

In den Büchern arbeitet Susanne Bürger mit der sinnlichen Materialsprache von Aquarell, Bleistift und Tinte auf Papier. Das Fliessen der verdünnten Farbe in das saugende Papier, ihr Durchsickern und Durchschlagen von der Vorder- auf die Rückseite, das Aufblühen der Farbe an den Rändern der Linien bleibt unmittelbar sichtbar. In der Kombination von farbstimmigen Linien und einfachen ornamentalen Formen zu anderen entsteht Räumlichkeit und Gedankenraum. Schwebende Formen schaffen offene Bildräume, die einzelnen Ausschnitte stehen frei auf dem Blatt. 

Die Künstlerin entwickelt so eine Korrespondenz von Farben und Zeichnung, Spontanität und Reflexion, Emotion und Denken in einer Aneinanderreihung von rhythmischen Momentaufnahmen zu Serien, die in einem Buch miteinander verbunden sind. Im Fluss der Abfolge der einzelnen Seiten verwandeln sich Motive für den Betrachter überraschend in andere Richtungen, das Lapidare formt sich um zu Bildvorstellungen. 

Die reale Bewegung des Blätterns, das Umschlagen der Seiten per Hand spricht den Lese-Sinn an. Der Bildwechsel verändert jedoch den Eindruck zu einer Sehabfolge bei der Stärkeres und Schwächeres gleichwertig nebeneinander stehen bleibt und damit einen Grad an spielerischer Lebendigkeit in sich aufnimmt, mit assoziierten Berührungen zum Medium Film.

Doch spiegelt gerade die künstlerische Arbeit von Susanne Bürger den gesteigerten Wert des Haptischen eines Orginals, der sich im Vergleich zu digitalen Bilderproduktionen als Gegenposition einstellt.  

 

Zeichnungsblöcke

Mehrere Zeichnungen, die einzeln nacheinander entstanden sind, zu einem Block zusammengestellt, aktivieren sich gegenseitig durch unterschiedliche Strukturwerte und haptische Zeichenspuren auf dem Papier. Ob der Betrachter das zweite Blatt mit dem dritten verbindet oder das zweite Blatt mit dem fünfzehnten Blatt, es entstehen Unterschiede der Verknüpfung, so dass jeweils ein anderer Wahrnehmungs-Kreis hervorgerufen wird. Die Wahrnehmung wird nicht auf einem Zentrum festgehalten, sondern die Zeichnungen verstärken die Sehbewegung durch ihre deutliche Kontrastsprache der Helligkeiten und Dunkelheiten. 

 

Kreisarbeiten

Der schnellen Arbeitsweise des Zeichnens als eine direkte Bewegungsübersetzung auf Papier korrespondiert ein langsameres Vorgehen bei dem Entstehen der Bilder mit Ölfarbe auf Holz. 

Auch hier geht die Künstlerin wieder den sichtbaren Dingen auf den Grund, wechselt jedoch ihre Haltung in Bezug auf das Material. Durch Reduktion und die Zurücknahme eigener Spuren entwickelt sich eine Verwandlung des Wahrgenommenen in einfache Strukturen. 

Eine Kreisform setzt sich aus 2 Halbkreisen mit horizontaler Schnittlinie zusammen, wobei die einzelnen Hälften malerisch und zeichnerisch unterschiedlich behandelt werden. Monochrome Farbflächen auf der Einen, aus der Holzmaserung freigelegte Linienstrukturen auf der Anderen erzeugen in der Gegenüberstellung eine Spannung von Einheit und Trennung. Die einzelnen Kreise unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Größe, Farbe, Hell-Dunkelkontrast und zeichnerischen Struktur. Aus dem Eindruck der Zeichensetzungen an den Baumstämmen und an den Holzstapeln der gefällten Bäume, ein Verweis auf die Sprühfarben zur Holzmarkierung in der Forstwirtschaft, verwendet Susanne Bürger in einigen Halbkreisen die Neonfarbe orange. 

In dieser Werkgruppe entwickeln sich mehrere Halbkreisformen gleichzeitig nebeneinander, so dass die Künstlerin auch hier ihr spielerisch leichtes Arbeitskonzept nutzt für wechselnde Möglichkeiten der Kombination. 

Eine Reihe der Kreise werden als Installation in offener Anordnung in unterschiedlichen Größen nebeneinander auf einer Wand verteilt. Es entsteht eine räumliche Situation der Abstraktion in einem Ordnungssystem an der Wand, mit der Anmutung einer vorgestellten Bewegung, die an Planetenmodelle, ein Planetarium erinnern, unterstützt durch die Teilung der Kreise in zwei Helligkeitszonen, die der Betrachter als Tag Nacht Einteilung von Himmelskörpern in seinem Bildgedächtnis gespeichert hat.

 

Martin Conrad, November 2010